Die neue Ordnung heißt präventiver Sicherheitsstaat

Wir haben ja zusammen noch gefeiert bis Silvester. Die Ausnüchterung begann am 1. Januar 2008. Dann kam die Vorratsdatenspeicherung. Und was die jetzt nicht alles vorratsspeichern! Allein schon bei Telefonaten: Alle beteiligten Rufnummern und die Seriennummer der benutzten Geräte, die Dauer der Telefonate. Und bei Handys sogar den Standort, wann immer etwas ein- oder ausgeht. Ein schwacher Trost nur, daß wir uns dem neuerdings doch noch entziehen können. Und dazu müssen wir nicht einmal die Telefone wegwerfen. Es reicht schlicht, in die Nähe von Gefängnissen zu ziehen. Dort ist durch die Handy-Blocker ein bißchen Ruhe im GSM-Netz.

Und nach dem nächsten Congress? Kommt dasselbe in grün für das Internet: Die speichern unsere E-Mails. Inklusive aller Pharmapropaganda und Körperteilverlängerungen, dazu VoIP und Webseiten. Wir sind nicht einmal beim Pr0n-Surfen mehr alleine. Aber es sollte uns beruhigen zu wissen, daß es nicht der böse, an allen Ecken und Enden datenverlierende und für kein verkacktes IT-Großprojekt zu vorsichtige Staat ist, der dort die Informationen speichert. Nein! Wir können uns sicher sein, daß die zum Speichern gezwungenen Dienstleister alles in Hochsicherheitsinformationsendlagern versiegeln und einmotten werden. Allein schon, um sich vor dem Drang zu schützen, diese Daten selber zur Verbesserung der Kundenbeziehungen zu gebrauchen.

Aber was erdulden wir als gutgläubige Bürger nicht alles, wenn es gegen den bösen Terrorismus geht. Da können wir doch über kleine Kollateralschäden großzügig hinwegsehen. Aber halt! SPD-Innenspezialexperte Wiefels­pütz klärt uns auf: „Ich wäre für die Vorratsdatenspeicherung auch dann, wenn es überhaupt keinen Terrorismus gäbe.“ Achso. Da trifft es sich ja gut, daß es hier tatsächlich keinen Terrorismus gibt, sondern wir in einem weitgehend friedlichen, nur selten von Terror-Tornados überflogenen Land leben, in dem sich selbst gewalttätige Sturmtruppen nur zu den üblichen Festspielen aus ihren Kasernen trauen. Und die sogenannten „Anschlagsversuche“ fehlgeleiteter Jugendlicher wurden ganz ohne Bundestrojaner und Flugzeugabschuß verhindert. Doch ohne Feind war noch nie ein Staat zu machen.

Falls sich keiner mehr daran erinnert: Alle Fraktionen des Bundestages haben seinerzeit die Vorratsdatenspeicherung abgelehnt. Das hinderte Schily kein Stück, dem gefährlichen Mumpitz in Brüssel zuzustimmen und damit über den europäischen Umweg das Parlament zu mißachten. Und so soll es uns nicht wundern, daß dies nur eines in einer langen Liste von Gesetzen sein wird, das „materiell verfassungswidrig“ ist. Der biometrische Paß, die Kennzeichen-Rasterfahndung, die „Anti-Terror-Datei“ genannte Zentralkartei der nun verbundenen Repressionsbehörden, das geplante Bundeszentralregister mit lebenslanger Identifikation und nun die Computerwanze – die neue „Sicherheitsarchitektur“ läßt sich doch nicht von so Kleinigkeiten wie dem Grundgesetz aufhalten. Es war ja auch nicht alles schlecht im Dritten Reich.

Wenn der Bürger nicht sowieso schon seit Jahren wüßte, daß Politiker korrupt, kriminalitätsanfällig und vollkommen merkbefreit sind, würde er zwischen Shoppen, Urlaub und unterbezahlter Arbeit vielleicht mal hochgucken, wenn Schäuble 2008 fordert, daß Hausdurchsuchungen wieder heimlich, Folter erlaubt und RFID-Implantate sowie akustische und visuelle Wohnraumüberwachung nun verpflichtend ist. Danach wählt er die Spacken beim nächsten Mal wieder – mangels sinnvoller Alternativen. Die Deutschen, die in Heerscharen jeden Monat das Land verlassen, sehen wohl keine Zukunft mehr hier. Es war ja auch nicht alles schlecht in der DDR.

Und um die zeitgenössischen Referenzen an totalitäre Systeme komplett zu machen, borgen sie auch noch bei Orwell: Die 129a-Verfahren bringen uns nun endlich auch in Deutschland Gedankenverbrechen, deren Reichweite mit der Wiedereinführung der möglichst unscharfen „Vorfelddelikte“ weiter ausgebaut wird. Mit der Online-Durchsuchung hätten sich ja gewiß noch mehr verbotene Gedanken finden lassen. Die Sicherheitshysteriker an der Spitze des Bundesinnenministeriums werden ja nicht müde, weiter ohne Unterlaß ihren Trojaner zu fordern.

Wenn man genauer hinsieht, entdeckt man aber auch zutiefst menschliche Seiten im Überwach­ungsapparat: Zum ersten gibt es praktisch keine Vertreter des Innen- oder Justizministeriums mehr, die diese beispiellose Ermächtigung der „Sicherheits“behörden öffentlich mit so etwas Ähnlichem wie inhaltlichen Argumenten verteidigen. Wir glauben ja inzwischen: verteidigen könnten. Die zweite Beobachtung ist noch beunruhigender: Nahezu jeder Beamte, der das Räderwerk des Neuen Deutschen Überwachungsstaates bedient, sagt im Privaten, daß er das eigentlich auch total überzogen und in seiner Gesamtheit sehr erschreckend findet. Aber – leider, leider – man kann ja nix machen. Befehle sind Befehle, und wo kämen wir denn hin, wenn in Deutschland plötzlich keine Befehle mehr befolgt würden.

Immerhin scheinen die IT-Angestellten der Polizei in Scharen die Flucht in die Wirtschaft anzutreten. Wer will auch schon für ein Scheißgehalt einen moralisch äußerst fragwürdigen Job machen, wenn es Alternativen gibt. Dieser Trend ist förderungswürdig. Und nur für den Fall, daß ihr jemanden kennt, der nach dem Ausstieg aus der Informationsjunkieszene sein Gewissen erleichtern und Details mit anderen interessierten Nerds teilen möchte, ist der Braune-Umschläge-Schlitz an der Redaktion Datenschleuder rund um die Uhr geöffnet.

Und als Paukenschlag der Weitsicht trifft uns just beim Schreiben dieser Zeilen das Geschenk des Bundesverfassungsgerichts. Es waren Backpfeifen in die terrorgeifernden Fressen der berufsmäßigen Gesetzesverkacker, jede einzelne Schelle so präzise plaziert, wie es in letzter Zeit leider nur noch die obersten Richter dieser Republik vermögen. Sie sind die letzte Bastion der Vernunft vor den immer wieder Grenzen auslotenden Heerscharen digitaler Analphabeten in den ministerialen Chefsesseln. Denn daß deren Ignoranz doch keine Frage der Generation ist, beweisen die roten Roben so beiläufig, wie sie beim verfassungsrechtlichen Betonieren der digitalen Selbstverständlichkeiten mit Dampfhammerschlägen links und rechts des Weges gleich noch die Vorratsdatenspeicherung und die Praxis der Rechnerbeschlagnahme auf Punktmasse zusammenstampfen. Zu unserem neuen Wau-Holland-Gedenk-Grundrecht möchte die Redaktion allen Lesern herzlich gratulieren. Zwar hat das neue Recht den für Nichtjuristen etwas sperrig auszusprechenden Namen „Grundrecht auf Gewährleistung der Integrität und Vertraulichkeit von informationstech­nischen Systemen“, aber wir haben uns schließlich auch daran gewöhnt, den Zungenbrecher „informationelle Selbstbestimmung“ fehlerfrei auszusprechen.

Wir können nun, kaum 25 Jahre nach Proklamation der Netzweltlobby, stolz darauf sein, mit unserer Agenda den gesellschaftlichen Mainstream durchdrungen zu haben. Uns wurde eine absolut geschützte digitale Intimsphäre geschenkt und die Bedeutung der Verschlüsselung dabei besonders betont.

Und wir wünschen uns und euch, daß dieses neue Grundrecht wahrgenommen und im Grossen wie im Kleinen mit Zähnen und Klauen verteidigt wird. Aber auch, daß wir dieses Grundrecht aller unserer Mitmenschen respektieren.

die redaktion