Wird der Chaos Computer Club arriviert? Sind wir angekommen in den seichten Niederungen des Establishments, in den schattigen Gesprächskreisen an den Lobbyisten-Schnittchenschleudern? Bei f lüchtiger Betrachtung kann einem schon der Gedanke kommen. Politiker aller Couleur werfen sich uns mit ausgebreiteten Armen an den Hals oder tun zumindest so, als würden sie beim Grauburgunder unsere fachliche Meinung hören wollen. Selbst der neue Innenminister gibt sich konziliant, erörtert unseren Datenbrief-Vorschlag und macht runde Tische wieder eckig.
Migriert die Mitte der Gesellschaft nun also ins Netz, zusammen mit den Silversurfern aus der Berufspolitikergilde? Fungiert der CCC als eine Art Vermittlungsausschuß zwischen digitalen Zuwanderern und den leicht angenervten Eingeborenen? Ist es also eher so, daß sich die Mitte rein demographisch zwangsläufig auf uns zubewegt? Sterben die analogen TelexDinosaurier aus oder müssen sie sich noch im und mit dem Netz arrangieren? Kommen wir in die Rolle des permanenten Erklärbärs oder – schlimmer noch – des Computer-ADAC?
Der Umarmungsdruck von allen Seiten ist gerade groß. Allein, der Club ist etwa so gut zu umarmen wie ein Kaktus. Viele haben es ob der scheinbaren Omnipräsenz in Medien und Gremien vergessen: Alles, was ihr seht, ist reine Freiwilligenarbeit, die von Leuten gemacht wird, die darauf Lust haben. Ob die Congresse, die Datenschleuder, Gutachten fürs BVerfG, die Pressearbeit: Niemand wird bezahlt, niemand gezwungen. Wenn keiner Interesse hat, weil das Thema zu öde ist oder das Gremium zu staubig und unwichtig, passiert auch nichts. Nicht zu müssen, sondern zu dürfen, ist der Kern der Unabhängigkeit des Clubs, nur so können wir unbefangen und unbeeinflußt Stellung nehmen und Expertisen beitragen zu den Themen die uns am Herzen liegen. Stopft also bitte die übersteigerten Erwartungshaltungen zurück in den Schlüpfer!
Nicht zuletzt der Spaß am Gerät und das Zerforschen der Technologie, die unseren Alltag bestimmt, gibt uns Energie, Expertise und Lust, dem im Politzirkus allgegenw ärtigen Gemisch aus Unwissen, Proporz, Ignoranz und Stammtischlogik eine rationale, freiheits liebende Perspektive entgegenzusetzen. Daher freuen wir uns, einige sehr erbaul iche Forschungsberichte aus den Randbezirken des erforschten Digitaluniversums präsentieren zu können. Besonders zu empfehlen seien angesichts des dräuenden elektrischen Personalausweises die reich bebilderten Abhandlungen zur Entkleidung und optischen Feinanalyse von Chips und Angriffen auf „sichere Hardware“ mit Seitenkanalmethoden. Die hier erstmals so schön in Schriftform auf bereiteten Erkenntnisse sind das Rüstzeug für die nächste Etappe.
Seit die letzte Datenschleuder aus den Druckerpressen donnerte, hat sich einiges getan im deutschen Digitaldilemma. Das Bundesverfassungsgericht hat uns vorerst von der Vorratsdatenspeicherung befreit und harte Grenzen gezogen, was zukünftige bevorratende Speichergier auf die Daten der Anderen angeht. Organisierte Berufsdatenverbrecher wie Facebook, google und StudiVZ bemühen sich jedoch redlich, die beim Staat gerissene Speicherlücke zu füllen. Wie lange der Respekt vor dem Urteil die Datengier zähmen wird, bevor die gerade noch in ihren Werkzeugen beschnittenen Bedarfsträger sabbernd nach diesen privaten Speicherpfründen langen, kann sich auch ein SchülerVZ-ler an einer Hand ausrechnen.
Die Netzsperren haben sich für uns als langlebiges Kleinod erwiesen. Selbst die ansonsten als Steh-auf-Weibchen bekannte, stets grinsende Zensursula wurde dabei verschlissen. Ihre Nachfolgerin mit den häufig wechselnden Allerweltsnamen hat sich gleich gar nicht mehr des Themas angenommen. Etwas einsam an dieser politischen Front kauert nur noch die Christenunion, um von der Realität unerschüttert die nichtsnutzigen Zugangshemmnisse zu promoten. Nebenbei schlich sich – quasi wie zum Test der Beißreflexe – in fast schon erfrischender Dreistigkeit eine neue Volkszählung in die politische Arena: Ein vorprogrammiertes Debakel, geradeso als ob uns die Möglichkeit gegeben werden soll, in Zeitlupe beim Gedeihen eines Datenskandals zuzugucken. Dem widmen wir uns auf Seite 45 ausgiebig.
Wir hatten die einmalige Gelegenheit, einem kulturellen Wandel beizuwohnen: Neuerdings gehört es sich für jeden gestandenen Politnachwuchs, mangelnden Berufsethos durch Netz-Anschleimerei zu kompensieren. Zufällig mischt man ein paar technische Fachwörter in jede Rede, was sie bedeuten, spielt dabei weniger eine Rolle. Bei Nachfragen wird betont, daß das sicher die Experten erklären könnten. Ein klitzekleines bißchen Lob spendet man hernach für die Segnungen des Netzes, nur um dann auf die entsetzlichen Abgründe zu verweisen, welche die „Datenautobahn“ (Wtf?) mit sich brächte. Keine Rede ohne den strunzblöden Verweis auf unter allen Umständen zu vermeidende „rechtsfreie Räume“. Dies müssen wir ihnen noch abgewöhnen.
In anderen Ländern – wie etwa Brasilien – ist schon seit vielen Jahren selbstverständlich, daß bei Parlamentsdebatten die E-Mail-Adresse des Redners in der Fernsehübertragung eingeblendet wird. Bis wir in Deutschland soweit sind, wird es wohl noch dauern: Die Konservativen konnten sich in der Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages, die explizit das Internet zum Thema hat, nicht mal durchringen, durchgehend öffentlich zu tagen. Das Antwortverhalten auf Abgeordnetenwatch kann jedenfalls kaum als Maßstab für eine transparente Regierung herhalten.
In Deutschland hingegen haben viele Politiker erst kürzlich wirklich Selberklicken gelernt. Doch sogar Wiefelspütz hat jetzt seinen eigenen Computer – und schweigt dankenswerterweise seit dem Alltagskontakt mit der vernetzten Realität beharrlich. Selbst Frau Zypries mußte auf die harte Tour erlernen, was ein Browser ist. Die Internetausdrucker drucken jetzt nur noch heimlich, wenn sie glauben, daß keiner zuschaut. Sie twittern bisweilen und vereinzelt sogar selber, eventuell hat ein Social-Media-PRBeratersimulant ihnen dazu geraten. Zu echten Online-Wahlkämpfen reichte es allerdings noch nicht, dafür brauchen sie wohl noch ein Jahrzehnt. Ein paar sinnvolle Inhalte und Antworten würde das vielleicht beschleunigen. Daß wir uns noch einmal brasilianische Verhältnisse wünschen würden …
Nerds, Hacker, Netzbewohner, Blogger haben sich fast ans helle Sonnenlicht beim auf der Straße Demonstrieren gewöhnt – und mit ihnen demonstriert der vielgespriesene Querschnitt der Bevölkerung mit passenden Parolen-Nickis und Kinderwagen. Zum dritten Mal schon kamen wir zu Tausenden zum Revolutionstraining in der Mitte Berlins zusammen. Aufgrund immer wieder an die Redaktion herangetragener Fragen bezüglich mißverständlicher Spielregeln für das Demo-Adventure publizieren wir daher auf Seite 48 ein nutzbringendes Regelbuch, das am 11. September dieses Jahres praktisch eingesetzt werden kann.
Zu den erfreulichsten Nachrichten der letzten Erscheinungspause der Datenschleuder gehört die Verleihung der Goldenen Nica 2010 des Prix Ars Electronica an den CCC. Der renommierteste Preis, den es in puncto Digitales in Europa so zu gewinnen gibt, wurde uns in der Kategorie „Digitale Gemeinschaften“ verliehen. Dankeschön! <die redaktion>