Geleitwort

Es rauscht einem schon wieder in den Ohren vor abgehalfterten Politdarstellern, allesamt kurz vor der Rente, die in jedes sich bietende Mikrophon ihr Verslein davon singen, welche dräuenden Gefahren sie aus dem Internet kriechen sehen. Was immer auch gerade in den Nachrichten läuft, ein kruder Bezug, um auf das pöhse, pöhse Internet draufzukloppen, ist nie weit. Der Kalte Krieg war nix gegen das, was uns heute (bitte hier dramatische Musik einspielen) aus dem INTERNET droht. Deswegen heißen die neuen kriegerischen Bedrohungen für die Freiheit des Westens jetzt auch Online-Gefechtsstellung und Cyberwar, nicht etwa Dresdner Datengier.

Man wünscht sich angesichts dieser verbogenen Realitätswahrnehmung die kluge Stimme der Vernunft zurück, die Prof. Andreas Pfitzmann verkörperte. „Terroristen wollten die Gesellschaft ändern, die Innenminister haben das geschafft“, schrieb er ihnen in seiner kompromißlosen Offenheit ins Stammbuch. Sich damit abzufinden, ist aber keine Option, wie er stets betonte und wie es auch die stets zu wahrende Hackerethik fordert. Schon darum heißt es am Samstag, den 10. September 2011, wieder: Heraus zur „Freiheit statt Angst“-Demo! Denn es ist Zeit für die Quittung. Die Demogrundregeln aus dem Heft 94 bitten wir dabei natürlich weiterhin zu beachten.

Zwischen all dem tönt mit der Regelmäßigkeit einer chinesischen Wasserfolter der Bund deutscher Kriminalbeamter mit so strunzdummen Einfällen wie dem Reset-Knopf fürs Internet oder dem Blockwart-Plugin für den sogenannten Browser. Die Antiterror-Datei nur mit der Visa-Warndatei zu verknüpfen, reicht ihnen dabei längst nicht mehr. Und „Tatort Internet“ fehlt in den Neusprech-Pressemeldungen nie. Das Internet von Übermorgen leuchtet uns als blankgeschrubbter Netzverbund chinesischer Prägung entgegen, wo jeder, der die Regeln der „Sicherheitsbehörden“ oder auch nur der Telekom zu übertreten gedenkt, nach einer kostenpflichtigen Abmahnung im One-Strike-Verfahren seinen DSL-Router abgeben muß.

Die politische Kaste ist zusammen mit der Polizeilobby dazu übergegangen, Entmündigung und Bevormundung im Netz offen zu fordern, während hintenrum von der eigentlich regierenden Kaste, der Wirtschaftslobby, die Netzneutralität Schritt für Schritt beerdigt wird und die Werbeverbundplattformen kräftig ausgebaut werden. Grund genug für uns, in diesem Heft eine Utopie für ein gleichberechtigtes, freies und neutrales Netz zu entwerfen.

Das schräge Internetbild zeigt Wirkung, wie ein einfacher Test beweist: Begebt Euch in einer beliebigen deutschen Stadt in eine Fußgängerzone und versucht mal, mit Passanten über das Internet zu reden. Da Geeks, Nerds und Hacker regelmäßig Fußgängerzonen meiden, die sagenumwobene Netzgemeinde permanent auf Facebook&Co. unterwegs ist und die Gesichtswiedererkennung testet, während die Social-Media-Consultant-Simulanten grade das neue Feature „Ich bekomme ein Kind“ von Facebook promoten oder versuchen, ihre Kreise bei Google+ so zu kringeln, daß mindestens ein Teilnehmer was Handfestes gelernt hat, werdet Ihr in der Fußgängerzone meist nur Leute treffen, die sich vor dem Internet fürchten wie der Teufel vor dem Weihwasser.

Auch Schüler können davon ein Lied singen; ihr digitaler Lebensraum wird fortwährend schlechtgeredet und droht, nicht nur dauerüberwacht, sondern auch überreguliert zu werden. Aber wenigstens der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag blieb ihnen erspart. Bei all dem hilft vielleicht ein Schuß Lyrik und Lebensweisheit, den uns Twister in diesem Heft kredenzt. Anders ist dem Gerede vom „rechtsfreien Raum“ wohl nicht mehr zu begegnen. Und dieses Gerede ist nicht nur über die Maßen nervig und in seiner Plattheit beängstigend, es lenkt auch allzu oft von den wirklichen Problemen ab, die eben nicht im Internet geboren werden, die sich dort aber ein weiteres Mal widerspiegeln. Princess versucht, dem Entgegenzuwirken und widmet sich in dieser Ausgabe dem Thema Cybermobbing.

Doch die Krone der verzerrten Wahrnehmung setzt sich nach wie vor Innenspezialexperte und Bedarfskriminalisierer Uhl, seines Zeichens Mitglied der Fortschrittsversteher- und Anti-Atomkraftpartei CDU, auf, wenn er allen Ernstes im ZDF sagt, in der virtuellen Welt des Internets würden Kinder mißbraucht. Na gut, es war bei Peter Hahne, da erwartet man keinen Widerspruch. Und so kam dann auch keiner, auch nicht gegen die Flut von Überwachungsmaßnahmen, die Uhl ritualisiert einfordert. Vielleicht kann ihm jemand den abgeschalteten 9Live-Kanal geben, da könnten seine Sprüche in der A-Rotation laufen.

Die Sache mit dem Widerspruch scheint generell in Unionskreisen und den ihnen angeschlossenen Parteien wie der FDP nicht sehr verbreitet. Selbst die wenigen CDU-Abgeordneten, die verstehen, was es mit dem Internet auf sich hat, werden rigoros zurück ins Glied „gebeten“, sollten sie allzu doll vorpreschen. Wir blicken in dieser Ausgabe lieber nach vorn und werfen einen Blick auf das, worauf das Augenmerk fallen sollte. Beispielsweise auf die Vertraulichkeit von Patientendaten und den alltäglichen Sittenverfall im Umgang mit ihnen.

Apropos Sittenverfall: Nach dem eigenmächtigen Rauswurf von Daniel Domscheit-Berg durch den Vorstand des CCC ist es wohl Zeit für mehr Sachlichkeit und weniger Boulevard. Wir rufen auch die Leser auf, mehr über sinnvolle technische Lösungen und damit über die Zukunft der Leaking-Plattformen statt über die aufgeblähten Egos der Beteiligten nachzudenken. Unsere Aufmerksamkeit sollte ebenso auf den vernachlässigten Fall des vermeintlichen Whistleblowers Bradley Manning fallen, der seit mehr als einem Jahr unter menschenunwürdigen Bedingungen in Haft sitzt. Einzig öffentliche Aufmerksamkeit kann ihm helfen. Wir rufen die Leser daher auf, aktiv zu werden und uns Kampagnenideen für die Freilassung von Bradley Manning zu senden. Wie immer an ds@ccc.de. <die redaktion>